Text von Sabine Meier Ballaman

Die Krankheit der tausend Abschiede begleiten

Die Diagnose amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS, verändert das Leben der Betroffenen und ihrer Angehörigen tiefgreifend. Das ALS-Team aus dem Universitätsspital Basel begleitet und unterstützt Betroffene in allen Phasen dieser bisher unheilbaren Krankheit.

Das ALS-Team bespricht sich regelmässig. Von links: Sabine Meier Ballaman, ALS Care Nurse, Pflegeexpertin, Dr. Nicole Naumann, Oberärztin Neuromuskuläres Zentrum, Dr. KathiSchweikert, ALS-Team Leitung, Oberärztin Neuromuskuläres Zentrum, Dr. Maria Janina Wendebourg, Assistenzärztin Neurologische Poliklinik

Das ALS-Team bespricht sich regelmässig. Von links: Sabine Meier Ballaman, ALS Care Nurse, Pflegeexpertin, Dr. Nicole Naumann, Oberärztin Neuromuskuläres Zentrum, Dr. KathiSchweikert, ALS-Team Leitung, Oberärztin Neuromuskuläres Zentrum, Dr. Maria Janina Wendebourg, Assistenzärztin Neurologische Poliklinik

Die 76-jährige Katharina Lieberherr lässt mich in ihre Welt ein. Sie ist von ALS betroffen und ich mache als Pflegeexpertin ALS regelmässig Hausbesuche bei ihr. Diese sind ärztlich delegiert. Ich berate und begleite sie in ihrer ALS-Erkrankung und in allen psychosozialen Themen. Meine volle Aufmerksamkeit, achtsame Haltung und Fachkompetenz sind jeweils auf ihre gegenwärtige Lebenssituation gerichtet.

Katharina Lieberherr lebt allein in einer kleinen Wohnung in Basel. Die Ausstattung erzählt die Geschichte einer sensiblen, lebensfrohen und selbstbewussten Frau. Auch heute wird deutlich, dass der Schock über die Diagnose bei ihr noch immer tief sitzt. Die Patientin sagt mit trauriger Stimme, dass sie froh sei, in ihrem Leben immer das getan zu haben, was ihr wichtig gewesen sei. Katharina Lieberherr hat ein intaktes soziales Umfeld. Ihre Freunde, die Erinnerung an Begegnungen und die Bilder von Reisen geben ihr Kraft, um mit der Krankheit zu leben.

Mit dem Arm fing alles an

2018 wurde Lieberherr mit der Verdachtsdiagnose ALS ins Neuromuskuläre Kompetenzzentrum (NMZ) am Universitätsspital Basel überwiesen. In der Sprechstunde lernte das ALS-Team die Patientin kennen. Ich erinnere mich, dass Dr. Nicole Naumann und ich neben einer Armschwäche leichte Heiserkeit und verlangsamtes Sprechen wahrnahmen. Die Patientin selber beschrieb Kraftlosigkeit im linken Arm und in der Hand, vermutete eine Nervenentzündung und hoffte, dass dies wieder vorübergehen werde.

Viele offene Fragen

«Es war der Horror, als ich realisiert habe, was die Diagnose bedeutet, dass ich noch höchstens zehn Jahre, aber vielleicht auch weniger lang lebe.» Katharina Lieberherr erinnert sich noch sehr genau an die Sprechstunde, als ihr die Ärztin die Schockdiagnose stellte. In diesen schwierigen Situationen gilt es herauszufinden, was die Patientin oder der Patient schon ahnt und inwieweit zu diesem Zeitpunkt genauere Informationen gewünscht werden. Behutsam sprachen wir auch im Fall von Katharina Lieberherr die verschiedenen Themen rund um ALS an und beobachteten dabei ihre Reaktionen. Das ALS-Team erinnert sich: Gefühlswärme, Augenkontakt, Empathie, verständliche Sprache und vor allem ausreichend Zeit für die Äusserung eigener Gedanken, Ängste und Fragen waren
Katharina Lieberherr damals wichtig. Sie hörte uns aufmerksam zu, schaute uns zuweilen
fragend an. In dieser Situation zeigt sich, wie wichtig fundiertes Fachwissen über
ALS-spezifische Symptome, Kommunikation, Case Management und psychosoziale Belange sowie End-of-life care sind. «Ich konnte mir selber nicht vorstellen, was Menschen am Altwerden schlimm finden. Wenn man jetzt selber in dieser Situation ist und noch ein Gebrechen dazukommt, versteht man mehr», sagt Lieberherr im Gespräch mit mir. Wir vereinbarten einen baldigen weiteren Sprechstundentermin, um die Patientin zu begleiten. Was uns beeindruckt hat: Katharina Lieberherr kommt stets alleine und geht alleine wieder nach Hause. Sie will zu jenem Zeitpunkt ihre Freundinnen und Geschwister nicht einbeziehen. Sie wolle kein Drama, sagt sie.

Diagnose im Leben einordnen

Und doch war für Katharina Lieberherr fortan nichts mehr so, wie es vorher war. Nach einer derartigen Diagnose werden Betroffene und Angehörige mit einer neuen Dimension des Daseins konfrontiert. Familiensysteme kommen ins Wanken. In der Folge wollen Betroffene die Diagnose nicht wahrhaben, hadern damit, fragen nach dem Warum, sind orientierungslos und suchen nach einer neuen Normalität. Es keimt die Hoffnung auf, dass alles wieder gut wird. Gedanken an die Sterblichkeit und den Tod können zu einer Belastung werden. Betroffene wie auch Angehörige versuchen damit umzugehen, jeder auf seine Weise. Die verbleibende Zeit für Menschen mit einer lebenslimitierenden Erkrankung sollte so gestaltet werden, dass sie körperlich, psychisch, sozial und spirituell unterstützt werden. Das Ziel ist eine bestmögliche Behandlung, Begleitung und Betreuung der Betroffenen und ihrer Angehörigen. Diese Aspekte werden von einem Netzwerk kompetenter, interprofessionell zusammengesetzter Fachpersonen berücksichtigt.

Beziehung, Akzeptanz, Annahme

In meinem Beruf sind Fragen wie «Welche Schritte sind denkbar?» oder «Was ist möglich?» zentral. Ich lege Wert auf die Begegnungen und konzentriere mich darauf, mit meinem Gegenüber eine Beziehung aufzubauen. Meinem Gegenüber gebe ich Raum, um das Gefühlte zu erfassen. Eine empathische, wertschätzende und authentische Haltung hilft mir, Prozesse zuzulassen. Katharina Lieberherr schätzt diese Haltung sehr und sagt,
das gebe ihr Halt, Sicherheit und die Zeit, um Entscheidungen zu treffen.

Dichtes Betreuungsnetz stationär und ambulant

Das ALS-Team im NMZ vertritt den Ansatz, Patientinnen, Patienten und ihre Angehörigen sowohl fachlich wie auch emotional zu unterstützen. Meine Anstellungen von 30 Prozent im NMZ und zu zehn Prozent auf der Neurologischen Bettenstation 4.2 ermöglichen es mir, Übergänge von ambulant nach stationär und umgekehrt zu begleiten, das Stationsteam zu coachen, Prozesse zu koordinieren. Die verantwortlichen Neurologinnen, Neurologen, Fachärztinnen, Fachärzte, Stationsärztinnen und Stationsärzte können mich hinzu- und einbeziehen, um die weiterführenden Informationen und Beratungsinhalte an involvierte Fachpersonen stationär und ambulant oder zu Hause zu organisieren und zu koordinieren. Ferner kann ich dank meiner freischaffenden Praxistätigkeit die Betreuung delegiert zu Hause weiterführen.

Die Besuche bei Katharina Lieberherr ermöglichen die proaktive Beratung und Koordination. Im – bei ihr weitgehend – linearen ALSVerlauf haben wir ein Netz aufgebaut, bestehend aus Neurologin, Hausarzt, Fachärzte Palliative Care, spezialisiertes Palliative
Care Team, Physiotherapeut, Ergotherapeut, Logopädin, Ernährungsberatung, freischaffende Pflegefachfrau und Betreuerinnen. Lieberherr betont, dass ihre Selbstständigkeit für sie das höchste Gut sei. Das Verstehen und Annehmen des Betreuungsnetzes war ein mehrmonatiger Prozess. Die zunehmende Hilfestellung im Alltag löste bei ihr erneut Trauer aus. Die stetigen Abschiede von ihrem selbstständigen Leben, Abhängigkeit und Kontrollverlust über ihren Körper erschütterten Katharina Lieberherr laufend. Diese Trauer zuzulassen und für den nächsten Schritt bereit zu sein, sind stetige Herausforderungen für sie und die involvierten Fachpersonen. Sie sagt selber: «Das Akzeptieren von Dingen, die man nicht ändern kann, ist schwierig.»

Lebensende gestalten

Der progrediente Verlauf von Immobilität, Atemproblemen sowie Kräfte- und Sprachverlust dominieren Lieberherrs Alltag zunehmend. In Gesprächen stellen wir uns den grossen Fragen: Was wäre, wenn ein Leben zu Hause nicht mehr möglich ist? An welchem Ort möchte ich mein Lebensende verbringen? Informationen über Sterbehilfe und End-of-Life care stehen im Raum. In dieser intensiven Phase wurde Katharina Lieberherr klar, dass ein Leben zu Hause für sie nicht mehr möglich ist. Sie hat sich für den Eintritt in ein Pflegezentrum entschieden. Wir planen zusammen mit dem Palliativen Mobilen Team des Palliativzentrums Hildegard Basel den Übergang in ein Pflegezentrum. Katharina Lieberherrs Hoffnung besteht darin, mit der notwendigen medizinisch-pflegerischen Unterstützung ruhig einschlafen zu können.



Dr. Kathi Schweikert, Oberärztin, Leitung ALS-Sprechstunde im Basler Neuromuskulären Kompetenzzentrum und im REHAB Basel



Was ist ALS?

Die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) zählt, wie die Alzheimer Demenz und der Morbus Parkinson, zu den degenerativen neurologischen Erkrankungen. Sie betrifft vor allem das zentrale motorische Nervensystem und wird deshalb den Motoneuronerkrankungen zugeordnet.

Wie verläuft ALS?

Nervenzellen im Gehirn und Rückenmark gehen zugrunde. Sichtbar wird dies an fortschreitendem schmerzlosen Schwund der Skelettmuskulatur (Amyotrophie). Initial tritt meist eine Fingerspreizer- oder Fussheber-Parese auf. Die seltenere bulbäre Form beginnt an den für Sprechen und Schlucken zuständigen Muskeln und macht im Verlauf die Einlage einer PEG (Magen-)Sonde erforderlich. Häufig ist eine zusätzliche Degeneration des frontotemporalen Cortex. Abhängig vom Ausmass fallen Störungen von Kognition und Verhalten, bei etwa 10% bis hin zur Demenz, auf.

Herzmuskel und innere Organe sind nicht beteiligt. Die meisten Erkrankten sterben ruhig an einer CO2-Narkose infolge Lähmung der Atemmuskulatur oder an einer Pneumonie.

Wie häufig ist ALS?

ALS ist eine seltene Krankheit mit etwa 700 Betroffenen in der Schweiz.

Was sind die Ursachen?

Die Ursachen sind bislang unklar. Genetik, Umweltfaktoren und Lebensstil werden als relevant erachtet.

Welche Therapien gibt es?

Ein Heilmittel gibt es bisher nicht. In der Schweiz sind zwei Medikamente zugelassen, die den Verlauf verzögern. Symptome wie Muskelkrämpfe, Spastik, Speichelfluss, Schmerzen, Gangstörung können therapeutisch, medikamentös und mit Hilfsmitteln behandelt werden.

Was bietet die ALS-Sprechstunde am Universitätsspital Basel?

Das Team besteht aus zwei ALS erfahrenen Fachärztinnen für Neurologie, einer Assistenzärztin am Ende der Facharztausbildung und einer ALS-Pflegeexpertin.

  • ALS-Konsilien: im Tandem von spezialisierter Neurologin und ALS-Pflegeexpertin bei
    • Regelmässige Konsultationen ALS-Betroffener mit Angehörigen bei verantwortlicher Neurologin und ALS-Pflegeexpertin alle 2–3 Monate:
      • Befunderhebung, Aufklärung, Beratung u.a. zu Therapiemöglichkeiten, Verlauf
      • Psychosoziale Unterstützung:
        • Vermittlung von Therapien und an Fachstellen
        • Kostengutsprachegesuche für Therapien, Hilfsmittel, Hospitalisationen
        • IV-und Versicherungs-Fragen klären
        • Hilfe bei Erstellung einer ALS-spezifischen Patientenverfügung
    • Ergänzende Tätigkeit der ALS-Pflegeexpertin in Delegation durch die Neurologinnen insbes.
      • Regelmässige Hausbesuche, insbesondere zur Optimierung Symptommanagement, Begleitung im gesamten Krankheitsprozess, psychosozialen Beratung Betroffener und Angehöriger und
    • In enger Kooperation mit dem REHAB Basel erfolgen dort
      • Diagnostik und Beratung bei Schluckstörungen ärztlich und logopädisch mit Endoskopie (FEES), Röntgen,
      • Trachealkanülenwechsel bei invasiv beatmeten ALS-Erkrankten
      • Botulinumtoxin-Injektionen bei fokaler Spastik
      • Ergotherapeutische Hilfsmittel-Beratung u.a. über Elektrorollstuhl, Lifter
        • Abklärung Wohnsituation mit SAHB, spezialisierten Architektinnen
        • Rehabilitation stationär/tagesklinisch im REHAB Basel, anderen Kliniken
        • Palliativmedizinische Konsilien ambulant
        • Hospitalisation im Hospiz im Park Arlesheim, Palliativzentrum Hildegard etc. zur Optimierung symptomatischer Therapie, zum Entlastungsaufenthalt oder in der letzten Lebensphase
        • Neurologinnen/neurologen
        • Externen Therapien: Physio-, Ergo-, Psychotherapie, Logopädie
        • Spitex
        • IV, Case-Management Krankenkassen
        • Patientenorganisationen: Mitwirkung bei
          • Muskelgesellschaft Schweiz: ALS-Fachgruppe
          • Verein ALS Schweiz: regionalen Netzwerktreffen für ALS-Fachpersonen im REHAB Basel halbjährlich
        • Palliativ-Care-Team
        • Physiotherapie
        • Logopädie
        • Ernährungsberatung
        • Neuroradiologischer Studie zu spinalen Langzeitveränderungen bei ALS
        • Epidemiologischer Genetik-Studie (SOD1-, C9-ORF-72Mutationen)
        • im Palliative Care Kurs für Grundversorger (seit 2013) des SBK Basel
        • beim ALS-Tag Schweiz für ALS-Betroffene, Angehörige, Fachpersonen
        • international: bei Fachtagungen, Kongressen
      • Neurourologische Diagnostik, Therapie, Beratung über Kontinenzhilfsmittel, Einlage suprapubischer Blasenkatheter
      • Neuroorthopädische Konsilien mit Physiotherapie, Orthopädist*in z.B. bei komplexer Schuh- oder Schienenversorgung
      • Betreuung ALS-Betroffener in dortiger ALS-Sprechstunde von deren Leiterin
    • Vernetzung und enge Zusammenarbeit mit
      • ALS-Team-Treffen im USB monatlich mit Fallbesprechungen mit
        • ALS-Studien: Beteiligung u.a. an
          • Fortbildungen: Präsentationen und Referate: im USB, regional und national
            • Aufbau und Koordination des ambulanten Fachpersonen-Netzes
            • ALS-spezifische Schulung von Pflegeteams mit Fallbesprechungen
            • Zuweisung und Organisation

            Wo kann ich mich mehr über das Thema ALS informieren?

            Im USB finden immer wieder Fortbildungen für Pflege, Ärztinnen/Ärzte und Mitarbeitende der Therapien zum Thema statt. Zudem wird im Palliative Care-Kurs für Grundversorger (seit 2013) des SBK Basel auf die Krankheit eingegangen. International wird ALS an Fachtagungen und Kongressen besprochen.

            Privatpersonen finden mehr Informationen auf der Website des Vereins ALS Schweiz: https://www.als-schweiz.ch. Im Rahmen des internationalen ALS-Tages vom 21. Juni finden für ALS-Betroffene, Angehörige sowie Fachpersonen unterschiedliche Veranstaltungen statt. Die Durchführung hängt in diesem Jahr von der Corona-Situation ab.

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