Irene Hösli
«Hi, kifak, ça va?!»
- Irene Hösli in Beirut
Beirut, Libanon, 4. August 2020
Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten wie gewöhnlich in Ihrem nach internationalem Standard ausgebauten Spital an einem Dienstagabend gegen 18 Uhr – vielleicht betreuen Sie Früh- und Neugeborene oder sind gerade bei einer Geburt und schrecken auf, da es vibriert und Sie plötzlich einen sehr lauten Knall hören. Sie sehen weit draussen Rauch aufsteigen und in der nächsten Sekunde geht eine gewaltige Explosion los, die Sie zu Boden wirft. Sie sehen um sich herum nur Glassplitter, Teile der Deckenverschalung, zerbrochene, aus den Rahmen gerissene Fenster und einen verbarrikadierten Ausgang. An was denken Sie zuerst, was machen Sie mit Ihren Patientinnen und Patienten, den Gebärenden und Neugeborenen? Diese Szene stammt nicht aus einem Science-Fiction-Film, sondern wurde von verschiedenen Überwachungskameras des St. George Hospitals in Beirut, wo ich 10 Tage später meinen Einsatz leistete, festgehalten.
Die Tage danach
Am 6. August, also zwei Tage nach der verheerenden Explosion und Detonation von 2’750 Tonnen Ammoniumnitrat, flog das erste Team des Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe (SHK) zum Soforteinsatz nach Beirut, bestehend aus Sicherheitsexperten, Logistikern, Ingenieuren und Architekten – zuerst zur Klärung der Gebäudestatik und zur Hilfe beim Wiederaufbau. Mit dabei waren auch Mitglieder des «Mother and Child Moduls», einer Sanitätseinheit, bestehend aus Pädiaterinnen, Anästhesisten, Geburtshelferinnen, Hebammen und Pflegefachfrauen.
Zwei Spitäler wurden zur Unterstützung ausgewählt: «Quarantine», ein öffentliches Kinderspital und Referenzspital für Verlegungen aus dem ganzen Land. Es liegt circa 500 m Luftlinie entfernt vom Hafen und war entsprechend stark verwüstet. Dort wurde zuerst mit baulichen Massnahmen begonnen, und bereits vier Wochen nach der Explosion konnten dort die ersten Kinder wieder operiert werden.
Das zweite Spital war das St. George Hospital, circa einen Kilometer Luftlinie entfernt vom Explosionsort, ein privates Spital, in dem alle Disziplinen, auch Geburtshilfe, angeboten werden. Obwohl es ein Privatspital ist, arbeiten dessen Kinderärztinnen und -ärzte auch im öffentlichen Spital Quarantaine. Das St. George Hospital hat eine 140-jährige Tradition, ist eines der topmodernen Privatspitäler und hatte nach dem 4.8.2020 von einer Sekunde zur nächsten keine einzige funktionierende Abteilung mehr. Im Erdgeschoss wurden aus der Notfallstation Kojen für Schwangerschaftskontrollen hergerichtet, inklusive eines grossen Raums für kleine chirurgische Eingriffe, für Geburten und auch für Kaiserschnitte. Daneben musste geklärt werden, welche Schwangeren überhaupt noch betreut werden können und wie die Versorgung von Neugeborenen aussehen könnte. Die geburtshilflichen Stationen im 4. und 5. Obergeschoss funktionierten nicht mehr und Schwangere wurden in andere Spitäler verwiesen. Das gesamte, sehr gut ausgebildete Personal war traumatisiert und wir konnten den Menschen Support geben, andere Räumlichkeiten für Geburten im Erdgeschoss zu finden, ihnen helfen, Medikamente und Geräte zu beschaffen und die Abläufe – unter SARS-CoV-2/ COVID-19-Bedingungen – durchzuspielen. Nach einer Woche wurden die ersten Neugeborenen hospitalisiert und die Schwangerschaftskontrollen begannen wieder.
Fotos von Alex Kühni
Humanitärer Einsatz zum Wohl von Mutter und Kind
Das «Mother and Child Modul» wurde 2010 gegründet, als Haiti vom grossen Erdbeben verwüstet wurde. Es hat zum Ziel, Schwangere und Säuglinge bei Naturkatastrophen zu versorgen. Das Team wird innerhalb von 48 Stunden aufgeboten und unterstützt die medizinischen Fachleute vor Ort. Um ausreichend medizinisches Fachpersonal zu mobilisieren, werden Partnerschaften mit Schweizer Spitälern geschaffen, so auch mit dem Unispital Basel seit 2016. Das USB entsendet, wenn notwendig und machbar, Geburtshelferinnen und Hebammen.
Im Vergleich zu meinem ersten Einsatz 2015 in Nepal war dieses Mal weniger der klinische Einsatz in der Geburtshilfe gefragt als die Unterstützung des Teams vor Ort. Diese Einsätze sind in einem laufenden Spitalbetrieb aber nur möglich, wenn die Kolleginnen und Kollegen einen unterstützen und kurzfristig einspringen können. Ein grosser Dank an dieser Stelle an alle in der Frauenklinik, die mir diesen Einsatz ermöglicht haben.
Was habe ich mitgenommen – ausser Za’tar und Sumach (landestypische Gewürzmischungen)? Vor allem dies: Einblicke in ein Land mit grosser sozialer Zerrissenheit und einer beeindruckenden Resilienz dieser oft dreisprachigen Bevölkerung – libanesisches Arabisch, Französisch, Englisch. Nach 15 Jahren Bürgerkrieg, ständigen Explosionen und einer Wirtschaftskrise, die noch nie so schwer war wie heute, stehen die Menschen immer wieder auf und versuchen mit viel Phantasie, Wissen und Humor weiterzumachen.
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