Text von Nicolas Drechsler

Ein Focus für alle Geschlechter

Er leitet die in der Schweiz bisher erste und einzige inter- und multidisziplinäre medizinische Abteilung für geschlechtervariante Menschen. Dr. David García Núñez widmet sich einer Aufgabe, die unsere Gesellschaft stark bewegt.

David Garcia, woran arbeitet der Innovations-Focus Geschlechtervarianz genau?

Wir erforschen die Grundlagen des Geschlechts. Das mag im ersten Moment eigenartig tönen, da die meisten Menschen «Geschlecht » als etwas Natürliches, Selbstverständliches, Unhinterfragbares erleben. Mit einem interdisziplinären und multiprofessionellen Ansatz suchen wir nach neuen Antworten auf alte Fragen.

Wie zum Beispiel?

Wie kommt es, dass die meisten von uns sich mit jener Geschlechtskategorie identifizieren, die man uns bei Geburt zuweist? Und warum gibt es ca. fünf Prozent der Bevölkerung, die damit ein Problem haben? Woher kommen diese Geschlechterspannungen? Und wie werden sie biologisch, psychologisch, sozial beeinflusst?

Das Thema Geschlecht, Gender und Geschlechtsbild ist eines, das oft diskutiert und wenig verstanden wird. Das fängt schon bei den Begrifflichkeiten an. Können Sie uns kurz erklären, was hier was ist?

Grundsätzlich kann «Geschlecht» in eine biologische, in eine psychologische und eine soziale Komponente unterteilt werden. Die biologische wird in der Literatur als «Sex» oder «Geschlechtskörper » bezeichnet. Die «Geschlechtsidentität» ist die psychologische Komponente des Geschlechts. Und die «Geschlechtsrolle» ist sein sozialer Ausdruck. Geschlechtsidentität und Geschlechtsrolle werden häufig als «Gender» zusammengefasst.

Intersexualität und Transsexualität galten lange als Krankheiten. Heute nicht mehr. Warum ist es trotzdem ein so wichtiges Thema für die Medizin?

In der Vergangenheit hat die Medizin behauptet, es gäbe nur zwei richtige Geschlechtsidentitäten (Frau/Mann), die sich aus den Genitalien (Vulva/Penis) ergeben würden. Es wurde davon ausgegangen, dass eine perfekte Gleichung zwischen Psyche und Körper immer bei allen Menschen bestehen würde, weshalb Personen, die sich nicht dieser Ordnung unterziehen konnten oder wollten, als «krank» bezeichnet wurden. In der Zwischenzeit zeigen die Daten und die Erfahrung, dass diese immerwährende angenommene Übereinstimmung bei niemanden existiert. Wir alle verspüren während des Tages Spannungen zwischen unserem Geschlechtskörper, unserer Geschlechtsidentität und unserer Geschlechtsrolle. Diese Spannungen sind bei manchen Personen viel stärker als bei anderen (inter, trans, nicht-binäre Menschen), weshalb sie medizinische, soziale und manchmal auch psychotherapeutische Interventionen brauchen. Und darum ist es wichtig, dass wir da sind: Diese Menschen brauchen einen Ort, an dem sie kompetent unterstützt werden.

Die Diskussionen rund um das Thema Geschlecht sind in den letzten Jahren regelrecht explodiert. Was macht das mit den Menschen, die zu Ihnen kommen?

Viele trans und inter Personen profitieren vom offeneren gesellschaftlichen Klima. Es ist wichtig, dass unsere Gesellschaft diesen Personen signalisiert, dass sie Teil unserer Gemeinschaft sind und dass sie nicht «repariert» werden müssen. Leider werden manche Diskussionen aber angriffig und toxisch gegen diese Personen geführt. Das setzt sie unter zusätzlichen Druck, was sich mittel- bis langfristig negativ auswirken kann.

Wenn Sie sich fünf Jahre in die Zukunft Ihres Innovations-Focus versetzen was haben Sie bis dann hoffentlich erreicht?

Wir sind weiter mit unseren Kenntnissen über die Grundlagen und Entwicklungsverläufe von Geschlecht. Wir haben einen festen und unbestrittenen Platz in der USB-Struktur. Und vor allem: Wir sind sowohl national wie auch international jener Ort, wo trans und inter Personen unter den besten Voraussetzungen transitionieren können.



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