Editorial

Lebensstoff auf Grenzen

Das Strässchen zu meinem Zuhause heisst Grenzweg und verbindet/trennt zwei Dörfer. Auf der einen Seite die Häuserzeile mit Blumengärten, gar Ziegen und Hühnern, auch sympathischen Gartenzwergen. Auf der Gegenseite ein weites freies Feld mit würdigem altem Baumbestand. Über mir der Himmel grenzenlos. Dem Grenzweg nach dem Tagewerk zu folgen, auch bei (Gegen)wind und Wetter, hat für mich eine besondere Bedeutung. Da fühle ich mich minutenlang frei wie ein Vogel und geborgen wie eine Haselmaus in ihrem Nest. Nein, ich würde nie die Abkürzung nehmen. Mein Grenzweg ist für mich goldrichtig, solange dieser vertraute Pfad nicht mein einziger bleibt und somit ein Holzweg wäre.

Über Grenzen schreiben? Seiten füllend. Gut ist dieses Textfeld begrenzt und die Gazzetta bereits ausgekleidet mit viel Stoff des Lebens: Grenzerfahrungen, aber auch Glück, Schicksal, Hoffnung. «Es gibt Grenzen – immer – und das ist gut so. Ohne diese gäbe es kein Glück. Und trotz der Grenzen – als Menschen können wir uns ändern und hoffen», so der Abschlusssatz von Prof. Manuel Battegay in seinem Interview – Stoff zum Nachdenken …

Ihre Gina Hillbert


«Man muss offen sein,

um Türen zu durchschreiten.»

E-Mail-Interview mit Prof. Manuel Battegay, Chefarzt Infektiologie & Spitalhygiene, Fachbereichsleiter Ärzte, Lehre & Forschung, Bereich Medizin, sowie Leiter Europäische HIV-/Aids-Richtlinien

E-Mail-Interview mit Prof. Manuel Battegay, Chefarzt Infektiologie & Spitalhygiene, Fachbereichsleiter Ärzte, Lehre & Forschung, Bereich Medizin, sowie Leiter Europäische HIV-/Aids-Richtlinien

Alles Neue beginnt mit Fragen. Kein Entdecker oder grosser Denker, der nicht den Fragezeichen nachgegangen wäre. Kein Forscher ohne Neugier, Beobachtungsgabe, Mutmassung, These. Kein Manuel Battegay ohne Enthusiasmus für neue Wege in Klinik und Forschung sowie Bewusstsein für soziale Verantwortung in der Gesellschaft.

Herr Prof. Battegay, wir haben bisher noch keinen Chefarzt gefragt, wie es sich anfühlt, Chefarzt zu sein. Was bedeutet Ihnen diese Rolle?
Ich freue mich mit meiner jetzigen Führungsverantwortung genau gleich über meine Arbeit wie zu Beginn meiner Tätigkeit am USB. Im Team Patienten zu betreuen, zu forschen, zu lehren, Menschen zu fördern und uns zusammen zu fordern, ist ein Privileg und eine Inspiration … beinahe täglich. Vor 2’200 Jahren beschrieb Rabbi Hillel, der bekannt war für seine Weitherzigkeit, einen wesentlichen Aspekt des Zusammenlebens wie folgt: «Wenn ich nicht für mich bin, für wen dann? Wenn ich nur für mich bin, was dann? Wenn nicht jetzt, wann?». Es braucht solide Wurzeln und einen Selbstwert. Aber nur für sich selber und auf sich zu schauen, ist schlecht und egoistisch. Und zu seiner dritten Frage: Wir alle wissen um unsere zeitliche Begrenztheit – deshalb sollten wir nicht immer warten, sondern etwas für den Nächsten tun.
Sie erwähnen bereits in Ihrer ersten Antwort einen Rabbi. Welche Rolle spielt denn der jüdische Glaube in Ihrem Leben?
Meine Familie hat mich sicher geprägt – jüdisch zu sein ist für mich ein Selbstverständnis. Dazu gehört, Verantwortung zu übernehmen: in der Familie und in der Gemeinschaft, ungeachtet der Religion, Stellung oder Ethnie, auch im Wissen um eigene Fehler. In einer so (unnötig) polarisierten Welt sind wir angehalten, integrativ zu wirken, Raum zu geben, und das Konzept des Verzeihens ist wichtig. Dies ist der zentrale Inhalt des höchsten jüdischen Feiertages «Jom Kippur» – ein Votum auch gegen das allzu Perfekte. Mein Urgrossvater war Rabbiner einer grossen Gemeinde in Bagdad um 1920. Geschichte und Geschichten haben mich immer fasziniert.
Dann fragen wir doch nach, welche Geschichte Sie im Laufe Ihrer Tätigkeit am Universitätsspital Basel am nachhaltigsten beeindruckt hat.
Nach viereinhalb Jahren Forschung in Zürich und Washington habe ich an meinem ersten Arbeitstag hier, am 1. September 1994, an einem Studienmeeting in Hamburg für die allererste HIV-Kombinationstherapie teilgenommen. Bis dahin starben praktisch alle HIVinfizierten Menschen qualvoll nach wenigen Jahren an Aids. Schwerstkranke Patienten nahmen in dieser Studie innert Wochen um zehn bis 40 kg Gewicht zu und überlebten. 1997 zeigte unsere schweizerische Studie erstmals eine lang anhaltende Mortalitätsreduktion von 70%. Diese Zeit des Wandels und des Enthusiasmus war unbeschreiblich. In den folgenden 20 Jahren führte die verbesserte HIV-Therapie zu einer fast normalen Lebenserwartung. HIV wird mit einer Therapie auch nicht weiter übertragen. Das Aufbauen einer Klinik mit Partnern des Swiss Tropical and Public Health Institute und tansanischen Kollegen seit 2003 im ländlichen Tansania war und ist ebenfalls eindrücklich. Aber ganz oben stehen das tägliche Arbeiten in der Infektiologie & Spitalhygiene mit einem ausgezeichneten Team, das interdisziplinäre Betreuen von Patientinnen und Patienten mit revolutioniertem Wissen, die Lehre und Forschung.
Was meinen Sie mit revolutioniertem Wissen?
Zum Beispiel die molekulare Diagnostik. Bei einer Patientin konnten wir beweisen, dass das Bakterium und der Pilz in einem Wirbelsäulenabszess mit einem Joghurt, den die Patientin zur Abwehrsteigerung einnahm, genetisch absolut identisch waren. Gegen diese Keime hatte die Patientin offenbar keine Abwehr, und über Darm und Blut wanderten die Keime in die Wirbelsäule. Auch spitalhygienisch- epidemiologisch können wir Übertragungsketten zusätzlich molekular verfolgen und gezielter intervenieren. Das Evolutionäre fasziniert mich zusehends, das heisst wie wir mit Bakterien, Viren und Pilzen seit jeher zusammenleben. In und um uns haben wir hundertmal mehr Bakterienzellen als menschliche Zellen – ein Wunder, dass sich Leben so entwickelte.
Aus Ihren Antworten spricht sehr viel Herzblut für Ihr Fach und die Patientinnen und Patienten. Hat Sie die Infektiologie gewählt oder umgekehrt?
Eigentlich beides: Nach lehrreicher Innerer Medizin in Liestal bei Prof. Gyr arbeitete ich an der Medizinischen Poliklinik in Zürich. Am ersten Arbeitstag, 1988, sagte mir Prof. Siegenthaler, dass eine Stelle in der Infektiologie frei sei. Ich war interessiert, und Minuten später stand ich vor einem verdutzten Prof. Lüthy, dem Abteilungsleiter. Wir betreuten meist junge Aids-Patienten mit eindrücklichen, häufig gleichzeitigen Infektionen und Tumoren. HIV/Aids als sexuell übertragene Krankheit war ein Brennpunkt und mit immer mehr werdenden Aids-Toten eine Tragödie. Vieles völlig Unklare war zu erforschen. Ich hatte dann das Glück, in Zürich bei Prof. Zinkernagel und in den USA bei Dr. Feinstone über die Virus-Wirt-Interaktion und die Hepatitis C zu forschen, vor allem darüber, warum Infektionen so verschieden verlaufen. Die unglaubliche Art und Vielfalt von Infektionen, von der bakteriellen Sepsis über Knocheninfekte, Infektionen bei Transplantierten und Lungenentzündungen bis zu Übertragungsketten haben mich von Anfang an beeindruckt. Anfänglich war die Wahl noch nicht glasklar, aber über die Jahre habe ich die Infektiologie aktiv gewählt. Planung, Glück und Schicksal spielen eine Rolle. Man kann nicht alles planen und muss offen sein, um offene Türen zu durchschreiten.
Glück und günstige Schicksalsfügungen können ja nicht alleinig zielführend sein, um internationales Renommee wie das Ihrige zu erlangen. Wie diszipliniert und ehrgeizig sind Sie?
Viel Arbeit und Disziplin gehören dazu und gute Mentoren, die ich hatte, auch. Es braucht Enthusiasmus. Es kann sehr inspirierend sein, sich einem Thema zu widmen und nicht zu meinen, man verpasse etwas. Für die klinische Forschung sind das Engagement, das Hinterfragen bei der klinischen Arbeit und das Generieren von Hypothesen wichtig: Warum verläuft etwas so? Das Fach Infektiologie ist dynamisch. So tragen wir durch die schweizerische HIV-Kohortenstudie zum Verstehen der Krankheit und zu besseren Therapien bei. In Gremien wie der European Aids Clinical Society, der ich vier Jahre vorstand, ist mehr Management gefragt. Einen Vorstand von ausgesprochenen Führungsmenschen – übrigens Männer wie Frauen – sowie eine Gesellschaft zu modernisieren helfen, und die Organisation zweier Europäischer HIV-Kongresse 2013 und 2015 (der nächste findet 2019 in Basel statt), waren sehr herausfordernd. Immer noch muss die HIV-Betreuung in Europa verbessert werden, zum Beispiel mit der Verbreitung der Richtlinien und Weiterbildungsprogramme. In Russland alleine beträgt die HIV-Neuinfektionsrate über 100’000 Menschen pro Jahr (weltweit gibt es 37 Mio. HIV-infizierte Menschen und die Neuinfektionen pro Jahr betragen 1,5 Mio. Menschen). Es war speziell, mit den in Russland in der Regierung Verantwortlichen zu diskutieren, ob und wie alle HIV-Infizierten, das heisst zwischen einer und zwei Millionen Menschen, und nicht nur 20% davon, therapiert werden könnten. Unser Ehrgeiz sollte das Streben nach Zielen sein, eine gewisse Hartnäckigkeit und vor allem Freude an Visionen, auch, um manche Frustrationen auszuhalten ...
Kehren wir zurück zum Anfang dieses Interviews, wo Sie bekunden, man solle nicht damit warten, etwas für die Nächsten zu tun. Was tun Sie für Ihre Nächsten?
Etwas für den Nächsten tun, ist wahrscheinlich nie nur für den Nächsten. Ich achte darauf, dass wir als Team selber nicht zu sehr das Thema sind. Das Selbstbezogene liegt im Zeitgeist: Bin ich absolut zufrieden mit meinem Leben, mit meiner Arbeit? Habe ich gemäss Schema alles richtig gemacht? Diese Erwartungen frustrieren viele. Niemand (auch ich nicht) ist immun gegen Verärgerung und andere menschliche Gefühle. Bei der Arbeit möchte ich den Fokus richtig setzen, das heisst Patientinnen und Patienten gut betreuen, Studierende begeistern und den Kredit nicht für mich reklamieren, wenn ein ganzes Team sich einsetzt. Ich bin meist zuversichtlich, freue mich zu ermutigen, Impulse zu geben und vor allem Jüngere zu fördern. Nebst der Arbeit hier, auch im Bereich Medizin und in Gremien, engagiere ich mich pro bono in Stiftungen. Da ich ein familiärer Mensch bin, ist für mich das Zusammensein mit Familie und Freunden essenziell.
Wir sind bereits am Schluss angekommen. Der Platz in der Gazzetta ist begrenzt; alles geht einmal zu Ende. Danke, dass Sie dieses Interview abrunden mit Ihren Worten zu «Endlichkeit» und «Grenzen».
Wir sind hier ständig mit der Endlichkeit und Tragischem konfrontiert und leiden mitunter mit. Selber kann ich nicht ständig mit dieser schweren Empfindung arbeiten und auch Patienten wäre damit aus meiner Sicht wenig geholfen. Das Wort «terminal», als medizinischer Ausdruck der Endlichkeit, ist für mich zu eng, denn in den letzten Wochen und Monaten können Patienten sehr wertvolle Momente erleben. Zu «Grenzen»: Vor lauter Gedanken zu «Grenzen» könnte man sich im Grenzenlosen und in Illusionen verlieren … Deshalb: Es geschehen Fehler. Es gibt Grenzen – immer – und das ist gut so. Ohne diese gäbe es kein Glück. Und trotz der Grenzen – als Menschen können wir uns ändern und hoffen.

Downloads


Kommentare (0)

Keine Kommentare zu diesem Artikel vorhanden. Sei die/der Erste, der diesen Artikel kommentiert.



Keine Ausgabe verpassen –
Erinnerungsservice abonnieren!