Virtuelle Realität –
in der medizinischen Praxis angekommen

Was in der Welt der Computerspiele längst gängig ist, findet nun auch im klinischen Alltag Anwendung: der Einsatz von virtueller Realität (kurz: VR). Aber was ist mit VR gemeint? Und welche Einsatzmöglichkeiten bietet sie im Universitätsspital Basel bereits?
Es handelt sich bei virtueller Realität um die Darstellung der Wirklichkeit in einer computergenerierten, interaktiven, virtuellen Welt wie zum Beispiel bei einer Reise durch den menschlichen Körper. Virtuelle Realität bietet zahlreiche Einsatzmöglichkeiten in der Medizin: angefangen bei der Aus- bzw. Fortbildung über die Diagnose von Krankheiten, die Aufklärung von Patientinnen und Patienten bis hin zur Planung von Eingriffen.
Entwickelt am DBE
Am Department of Biomedical Engineering (DBE) in Allschwil, das vom Universitätsspital Basel (USB) und der Universität Basel getragen wird, forscht man seit Längerem zu VR-Technologie. Ziel ist es, die Behandlung von Patientinnen und Patienten auf verschiedenen Ebenen zu erleichtern und zu verbessern. Unter der Leitung von Prof. Philippe Cattin, Vorsteher des DBE, wurde im Rahmen des Projekts MIRACLE (Minimally Invasive Robot-Assisted Computer-guided LaserosteotomE) Bahnbrechendes auf diesem Gebiet erreicht. Das von der Werner Siemens-Stiftung finanzierte MIRACLE-Projekt zielt darauf ab, minimalinvasive Laseroperationen zu ermöglichen. Dafür wird auch Navigationssoftware entwickelt, die dabei helfen soll, Operationen vorzubereiten und während der OP Abläufe zu vereinfachen.
Prof. Cattin und sein Team entwickelten in den letzten drei Jahren die Software SpectoVR, die Patientendaten wie zum Beispiel auf Computertomographie (CT) basierende Informationen in Echtzeit umrechnet und dreidimensional abbildet. Bisher konnten die CT-Daten einer Patientin oder eines Patienten nur auf zweidimensionalen Bildschirmen betrachtet werden. Es handelte sich somit um «flache» Bilder. Nun können Operateure vorgängig mithilfe von 3D-Brillen und der Software SpectoVR durch 3D-Modelle des Körpers eines Patienten navigieren und sich entsprechend auf die Eingriffe vorbereiten. Dank SpectoVR lassen sich Gewebeteile, Knochen oder auch Blutgefässe von allen Seiten betrachten.
«Der Arzt erhält somit ein viel genaueres Bild und kann Eingriffe differenzierter vorbereiten.»
Prof. Philippe Cattin
Eingesetzt am USB
Es gab bereits zahlreiche Anfragen von Kliniken weltweit, die von dieser Technologie profitieren möchten. Der Einsatz von auf SpectoVR basierten 3D-Brillen wird nun erstmalig am USB erprobt. Der Neurochirurg Prof. Raphael Guzman ist einer von mehreren Ärzten, die bereits erste Erfahrungen im Umgang mit dieser Brille gesammelt haben. Seit dem 1. Januar 2018 werden alle geplanten Operationen an Aneurysmata der Hirngefässe am USB mithilfe von SpectoVR vorbereitet. Das erlaubt es Prof. Guzman und seinen Kollegen, Operationen virtuell zu planen und einzustudieren. Einmalig ist dabei auch, dass verschiedene Chirurgen zeitgleich von unterschiedlichen Orten aus auf die gleichen 3D-Patientendaten zurückgreifen können. Forschungsgelder seitens der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) ermöglichen es dem neurochirurgischen Team, die neuen Daten auch wissenschaftlich zu verwenden.
Raphael Guzman: «SpectoVR bringt uns eine neue Dimension in der Vorbereitung komplexer Eingriffe. Das virtuelle Eintauchen in das menschliche Gehirn erlaubt es uns zum Beispiel, die Feinheiten der kranken Gefässe beim Aneurysma aus allen Richtungen zu betrachten und besser zu verstehen. Die Operation wird dadurch sicherer und wahrscheinlich auch kürzer.»

Auch in der Spinalen Chirurgie am USB wenden Wirbelsäulenspezialisten zunehmend SpectoVR an. Der erste mit SpectoVR geplante Eingriff war ein Fall von Morbus Bechterew, einer komplexen Fehlstellung bei entzündlicher Versteifung der Wirbelsäule. Der Eingriff wurde gemeinsam mit Prof. Stefan Schären, Chefarzt Spinale Chirurgie, und PD Dr. Gregory Jost, Oberarzt Spinale Chirurgie, vorbereitet.
Freiräume für die neue Technologie
Basierend auf den positiven Rückmeldungen dieser Pioniere und den vielversprechenden Möglichkeiten für den weiteren Einsatz im USB werden nun auf Initiative von PD Dr. Jens Eckstein, Chief Medical Information Officer, insgesamt vier Räume in der Chirurgie und Radiologie am USB mit jeweils zwei SpectoVR-Brillen ausgestattet. Die rasche Umsetzung dieses Projektes ist auch das Resultat einer engagierten Unterstützung durch Marc Strasser, Leiter Ressort ICT, und Martin Gerber, Leiter Ressort Finanzen, und ein schönes Beispiel dafür, was durch gute Zusammenarbeit am USB möglich ist.
Zwei weitere Räume sind angedacht: einer im Universitäts-Kinderspital beider Basel und einer in der Augenklinik des USB. Die über die Brille erzeugten Daten sollen an das KIS-Informationssystem des USB angeschlossen werden, um spitalweit einen effizienten Datenzugriff zu ermöglichen.
VR in der Sprechstunde
Doch nicht nur vor Operationen kommt die Software zum Einsatz. Virtuelle Realität soll auch in der Sprechstunde bei der Patientenaufklärung genutzt werden. Vor kurzem konnte der erste Patient vor seinem operativen Eingriff mithilfe der 3D-Brille nachvollziehen, warum eine Operation notwendig ist und wie diese ablaufen wird. Davon sollen beide Seiten profitieren: Mediziner können komplexe Fälle anschaulicher erklären, und Patienten können besser verstehen, was in ihren Körpern passiert. PD Dr. Gregory Jost durfte die erste Konsultation mit SpectoVR begleiten: «Für den Patienten war die Immersion mit SpectoVR äusserst hilfreich. Er konnte nun selber sehen, woher die Schmerzen kamen.» Dazu der Patient, Didier Migy: «Une expérience unique… Après une première intervention chirurgicale au niveau de l'épaule, les douleurs continuaient. Cette situation m'a mise en doute. Grâce à la visualisation 3D, les médecins ont pu constater que la source de ces douleurs était un nerf coincé au niveau de la colonne vertébrale et qu'une deuxième intervention était inévitable. Les images 3D m'ont aidé à accepter la situation.» (Übersetzt: Eine einmalige Erfahrung … Nach einer ersten Operation an der Schulter verschwanden die Schmerzen nicht. Die Situation hat mich verunsichert. Doch dank der 3D-Visualisierung konnten die Ärzte herausfinden, dass der Grund des Schmerzes ein eingeklemmter Nerv in der Nähe der Wirbelsäule war und dass ein zweiter Eingriff unumgänglich war. Die 3D-Bilder halfen mir, diese zweite Operation zu akzeptieren.)
Langfristig ist vorgesehen, VR auch in anderen Kliniken in der Schweiz einzuführen. Es bleibt spannend zu sehen, wie schnell sich VR im Klinikalltag etablieren wird – die ersten Schritte am USB sind gemacht.
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