Eine wahre Geschichte
Wir haben so viele Freiheiten. So ist es kein Zwang und Muss, Sendungen wie «Kochen mit Cervelat-Promis», «Bauer sucht Ledig» und «Bätschölör» anzusehen, selbst wenn diese Programme als sozial-evolutionär sinnvoll verkauft werden. Und wir haben auch die Freiheit, in den Regalen der Grossverteiler die Brunsli, Schoggi-Samichläuse und alles andere, das schon anfangs Oktober angeboten wird, nicht zu kaufen. Ebenso wenig die Osterhasen im Februar. Und … wir können auch den Weltuntergang vor dem wirklichen Weltuntergang verweigern. Wir haben die Freiheit zu entscheiden. Dennoch, Weihnachten kann uns ungewollt einholen. Ohne die Freiheit der Entscheidung. Überraschend. Sogar im Hochsommer.
Hülftenschanz kommt auch vor
Regelmässig besuche ich meine sehr betagte Mutter in einem Altersheim im Oberbaselbiet. Der Sprung über die Kantonsgrenze in einer Phase des regionalen Zusammenfindens hat gerade jetzt etwas Verbindendes, Mutiges, obwohl meine Wurzeln auf der Landschäftlerseite liegen. Wer als Urbaselbieter in der Stadt lebt und arbeitet, dies seit gut 40 Jahren, befindet sich irgendwie im Niemandsland der Hülftenschanz-Geschichte. Zurück aber zu meiner Geschichte: Die Besuche bei meiner Mutter sind meist mit einem Spaziergang im Rollstuhl durchs Dorf und einem vorgängigen Geniessen einer Pâtisserie mit Kaffee verbunden. Manchmal Kaffee und Süsses auch noch nach dem kleinen Ausflug. Zweimal sündigen.
Es begab sich …
… im Sommer, als meine Mutter und ich bei noch angenehmen Temperaturen das Altersheim zum Standardausflug ins Dorf verliessen, hinaus in die Freiheit. Vor dem Haupteingang und ums Haus herum bemerkte ich Personal, welches in erkennbarer Aufregung nach etwas suchte. Ich fragte nach und man teilte mir mit, dass eine Bewohnerin das Haus verlassen habe. Sie sei etwas desorientiert und leicht verwirrt. Die Sorge um die Vermisste war berechtigt und ich liess mir eine exakte Beschreibung geben. Vielleicht treffen wir sie ja unterwegs. Im Dorf, draussen im Grünen.
Vermisst
Der Spaziergang und die Plauderei mit meiner Mutter waren wie immer herrlich. In der Nähe einer kleinen Wiese, auf einer Bank, trafen wir etwas später eine betagte Dame. Alleine dort sitzend. Sie schien mir etwas hilflos und einsam. Und, was in diesem Moment das Wichtigste war, die Beschreibung passte perfekt zu der vermissten Altersheimbewohnerin. Mein Helferinstinkt war sofort eingeschaltet.
Gefunden
Meine Mutter ist sehr schwerhörig und so habe ich sofort mit der unbekannten Dame das Gespräch aufgenommen. Auf meine Frage, woher sie komme, schloss sich der Indizienkreis. Aus dem Altersheim. Freundlich habe ich sie eingeladen, mit uns gemütlich zurück zu spazieren. Ausserdem, und dieses Argument erwies sich nachträglich als schlecht, erwähnte ich auch ein aufziehendes Gewitter. In Tat und Wahrheit waren es bloss ein paar Wolken, aber für mich ein gutes Argument. Die dann gar nicht mehr hilflos wirkende Altersheimbewohnerin entkräftete dies jedoch klar. Aber dadurch kamen wir ins Gespräch: Wetter. Eigentlich der allerschlechteste Start in ein Gespräch. Dennoch gelang es mir nach einer Weile, die Dame von einem Spaziergang zurück ins Altersheim zu überzeugen. Meine Mutter fragte nur einmal nach: «Bisch du sicher, dass die Dame zrugg wott?» Klar wollte sie nicht, aber im Altersheim machte man sich Sorgen um sie.
Freiheit und zurück
Der Rückweg war bereichernd. Das Gespräch mit der betagten Dame interessant: Ihr zufriedenes und erlebnisreiches Leben, die gute Ehe und der Verlust des Ehemannes. Ich war tief berührt und beeindruckt von diesem Lebenslauf. Ich durfte einem Menschen begegnen, welcher sich nicht mit dem auseinandersetzt, was er nicht hat und nicht gehabt hat, sondern mit dem, was er hatte und immer noch hat. Eben die kleinen, wertvollen Momente und Dinge des Lebens. Von Verwirrtheit und Desorientiertheit war überhaupt nichts erkennbar. Kurz vor dem Altersheim bedankte sich die Dame für den Spaziergang, für das gute Gespräch und meinte: «Wissen Sie, dieser Spaziergang war jetzt fast wie Weihnachten. Vielen Dank». Zur Erinnerung: Wir standen mitten im Sommer.
Zwei Enden
Diese Geschichte hat ein «schlechtes» und ein gutes Ende. Ich bin sicher, liebe Leserinnen und Leser, Sie möchten zuerst das vermeintlich schlechte erfahren: Nun, die Dame auf dem Bänkchen war tatsächlich eine Bewohnerin des Altersheims, aber nicht die gesuchte. Das zuständige Personal schmunzelte entsprechend, als der Irrtum erkannt war. Mein Helfersyndrom hatte mir ein Schnippchen geschlagen.
- Weihnachtsgefühle auszulösen – dafür braucht es offensichtlich gar nicht viel.
- Weihnachtsgeschenke muss man nicht suchen,man findet sie. Und das sogar im Hochsommer.
- Die Tatsache, das zu schätzen, was man hat, und nicht das zu vermissen, was man nicht hat, ist auch
Weihnachten. Und die meisten von uns haben so viel, dass wir täglich Weihnachten haben und satt sind. - Das Leben hat uns reich beschenkt. Wir können uns Weihnachten ohne grosses Pipapo, ohne Schnickschnack und Grossverteilerangebot leisten.
- Über sich selbst lachen hilft immer. Das hilft übrigens auch am Arbeitsplatz.
Das Wichtigste an Weihnachten ist für mich der Weihnachtsgedanke. Wenn er sich durchs ganze Leben zieht, durch alle Jahreszeiten und sich in meinem Alltag einnistet. Das Gelegentliche, vermeintlich Kleine, Glitzerglimmer- Objekte, Rollschinkliberge, dann auch Osterhasen im Kühlregal, sind für mich wunderbar; geniesse ich. Aber es ist für mich nicht das Prioritäre. Ich schaffe mir meinen eigenen Weihnachtsgedanken. Diese Entscheidungsfreiheit ist ein Privileg. In diesem Sinne wünsche ich allen wunderbare Weihnachten an der kalendarischen Weihnacht. Und kleine, aber wichtige Weihnachten durchs Jahr hindurch.
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