Editorial

Ich bin dann mal weg.

Nein, ich begehe keinen Pilgerweg, so wie es der Schöpfer dieses genialen Buchtitels getan hat, sondern verlasse diese Gazzetta-Ausgabe mittendrin für ein Verweilen in einer ganz anderen Welt. Loslassen ist nicht immer einfach. Das Pflichtbewusstsein weiss genau, wann es sich wieder melden muss. In dieser Stimmung begab sich auch das Team Tabora zum Einsatz in ein abgelegenes Gebiet Tansanias, um innert 14 Tagen 350 Kindern auf die Welt zu helfen. Welch‘ geburtshilfliches Kontrastprogramm! Aber lesen Sie selbst. Unsere berührende Titelgeschichte kann und darf einen nicht kalt lassen.

Für das neue Jahr möge Sie folgender Gedanke begleiten: Wenn wir gehen, um anzukommen, dann sind wir auf dem richtigen Weg.

Ihnen allen (Be)rührendes und (Er)wärmendes wünschend

Ihre Gina Hillbert

Im Kleinsten dem

wirklich Grossen begegnen

Diese Milbe (Parazercon) hat durch die Bilderserie «Cursed Knights» weltweit Bekanntheit erlangt. Dieser Bildserie verdankt Oeggerli die Auszeichnung als International Photographer of the Year 2011 (IPA/Lucy Awards).

Diese Milbe (Parazercon) hat durch die Bilderserie «Cursed Knights» weltweit Bekanntheit erlangt. Dieser Bildserie verdankt Oeggerli die Auszeichnung als International Photographer of the Year 2011 (IPA/Lucy Awards).

Eine Entführung in den faszinierenden Mikrostrukturen-Kosmos, der uns alle umgibt, den wir gar in uns haben, den wir von blossem Auge nicht wahrnehmen können. Einzigartig vermittelt von Dr. Martin Oeggerli, Mikrobiologe, forschender Wissenschaftler, Fotograf, Künstler und ewig Staunender.

Krabbeliges unter dem Mikroskop

Mal ehrlich: Können Milben anmutig sein, und kann ihr Anblick uns geradezu erfreuen? Die meisten von uns finden diese Winzlinge schlicht grauslig. Allein die Vorstellung, dass Hausstaubmilben milliardenfach mit uns leben, gar auf uns herumspazieren, lässt uns erschaudern. Wir möchten diese kleinen Monster nicht sehen, schon gar nicht 1000-fach vergrössert oder derart 3-D-tiefengeschärft, dass jede haarförmige Borste, die Feinstruktur von Saugnäpfen oder Krallen zu erkennen sind. «Wir urteilen diese Kreaturen einfach ab», so Martin Oeggerli, der sich seit Jahren diesen artenreichsten unter den Spinnentieren schon bis ins kleinste Detail inbrünstig genähert hat, nämlich durch das Rasterelektronenmikroskop (REM). Das Instrument, welches ihm eine Welt offenbart, die ihn bestimmt nie mehr loslassen wird. Ein Mikrokosmos, den er durch seine Fotografie und die anschliessende Koloration für uns alle zugänglich macht, damit auch wir diese faszinierenden Bilder sehen, begreifen und uns daran erfreuen: kleine grosse Wunder, die uns bisher verborgen geblieben sind. Bilder, die uns entführen in winzigste Strukturen einer schier unfassbaren Perfektion, die uns die Evolution zu bieten hat.

Das Rasterelektronenmikroskop, welches im Biozentrum (C-CINA) steht. Am Aufbau waren 5 Mann während etwa 1-2 Wochen beschäftigt.

Das Rasterelektronenmikroskop, welches im Biozentrum (C-CINA) steht. Am Aufbau waren 5 Mann während etwa 1-2 Wochen beschäftigt.

Visualisierung kleiner Wunder

Martin Oeggerlis Liebe zu den Milben steht am Anfang dieses Beitrags. Das hat seinen Grund: «Es ist mir extrem wichtig, mit meinen Bildern zu erreichen, dass Vorurteile abgebaut werden», betont Oeggerli. «Erst selber schauen und sich dann ein eigenes Urteil bilden.» Durch den Blick in die Mikrowelt kann man Bekanntes neu entdecken, aus einer anderen Perspektive betrachten und überrascht sein von der Schönheit auch des vermeintlich Unschönen. «Bakterien sind schön. Es gibt solche, die sehen aus wie kleine Laternen. Die koloriere ich dann auch in einem warmen Rotton. Meine Bilder von Bakterien nehmen Kindern die Angst.

Das ist ebenfalls mein Anliegen. Die Welt mit den Augen eines Kindes sehen und dies den erwachsenen Verstandesmenschen zu vermitteln. Wenn mich mein Sohn fragt, wie das geht mit dem Blut, wenn man sich in den Finger geschnitten hat und es plötzlich aufhört zu bluten, dann will ich diesen Ablauf erleben. Der Prozess der Blutgerinnung ist ja für das Auge unsichtbar; er funktioniert seit Jahrmillionen. Wie muss ich mir das Stoppen der Blutung bildlich vorstellen? Als Molekularbiologe interessiert mich das von Natur aus. Zudem bin ich neugierig, folglich suche ich die Visualisierung dieses Wunders und … staune. Und was noch viel ergreifender ist: Das, was ich sehe, ist echt. Es existiert.»

Bilder für die Wissenschaft

Was wir nicht sehen, existiert nicht? Brauchen wir immer Bilder, um die Existenz zu beweisen? Wie immer auch Ihre Antwort ausfällt, die Wissenschaft verlangt Beweise. Martin Oeggerli liefert mit seinen Bildern solch fotorealistische Proofs. Jüngstes Beispiel aus der Gazzetta 2.16: Die zirkulierenden Tumorzellen, die Dr. Nicola Aceto mithilfe eines Mikrofluidik-Chips einfangen kann, die Martin Oeggerli visualisiert sowie mit «biologisch-medizinisch relevanten Farben» koloriert. Die Visualisierung beweist: Tumorzellen bilden Klumpen. Der Wissenschaftler weiss: In dieser Form sind sie viel gefährlicher für den Patienten. «Wenn ich Krebszellen unter dem REM habe, dann geht mir auch durch den Kopf, welches Schicksal damit verbunden ist.»

Einblick in die Krebsforschung: Dieses Bild zeigt eine sich teilende Zelle eines Therapie-resistenten invasiven Karzinoms, welche kurz vor Vollendung der Zellteilung steht. Das Bild entstand in Zusammenarbeit mit PD Dr. Christian Ruiz, Forschungsleiter der Pathologie des Universitätsspitals Basel. Dr. Ruiz untersucht die genomischen Mechanismen der Entstehung, das klonalen Wachstums- und der Resistenz von Tumoren.

Die Kunst der Struktur

«Ich möchte den Menschen etwas zeigen, was sie nicht kennen. Das Bild soll erfreuen und ja nicht stressen, also nichts Abstossendes visualisieren. Natürlich kann das Betrachten dennoch stressen, weil man nicht weiss, was es ist. Deshalb versuche ich mit der Farbgebung das Bild aufzuräumen, es zu schönen und dadurch das Auge auf das Wesentliche zu richten. Die Einfachheit ist dabei immer das Ziel.»

Dr. Martin Oeggerli

Der Mikorbiologe bezeichnet sich als Perfektionisten. «Der Kolorationsprozess kommt bei mir aus dem Bauch heraus, und ich höre erst auf, wenn mich nichts mehr stört.» Er habe sich 30 Jahre dagegen gewehrt, die Brücke zwischen Wissenschaft und Kunst zu schlagen und dies zu seiner Profession zu machen. Heute gibt ihm der Erfolg Recht, dass dieser Weg genau der richtige ist.

Aus dem neugierigen, naturverbundenen Jungen, der im Garten seines Grossvaters die Regenwassertonne mit seinen Holzrindenschiffli bespielt, damals schon über die flossartigen Konstrukte von Mückeneiern staunt, die auf der Oberfläche schwimmen, ist mittlerweile ein Micronaut geworden. Gross-Martin hat dieses Erlebnis weiterbegleitet. Jahrzehnte später entnimmt er dem Holsteinerhof-Springbrunnen ein solches «Schiffli» Mückeneier. 1000-fach vergrössert entdeckt er «absolut spektakuläre, vernetzte Strukturen, die aus der Helikopterperspektive wie eine extrem regelmässig angelegte Zeltstadt in der Wüste aussehen». Dieses Motiv wird von «Nature» 2012 als bestes Bild der Wissenschaft ausgezeichnet.

Bilder sagen mehr als tausend Worte

Nie war diese Metapher treffender als in diesem Beitrag. Mir fehlen die Worte, um auszudrücken, wie ich Martins Bilder wahrnehme. Oft will ich gar nicht wissen, ob es sich um Pollen, Schmetterlingseier, Bakterien, Zellen, die Retina oder ein Rosenblatt handelt, (meinetwegen auch Milben). Was sich dem Auge präsentiert, ist spektakulär. Die Koloration verwandelt das REM-Bild der Wissenschaft in ein Gesamtkunstwerk. Pixel für Pixel, in stundenlanger, ja tagelanger Arbeit tastet Martin Oeggerli das Objekt ab. Allmählich wird aus dem grauen, diffusen Bild ein buntes Wunderwerk der Natur. Taucht man einmal ein, wundert es nicht, dass Martin Oeggerli zu den renommiertesten Wissenschaftsfotografen weltweit zählt. Wie ein Astronaut, der durchs All rast, gleitet der Mikrobiologe als Micronaut durch die Mikrowelt, und die Reise – so darf man gerne glauben – wird nie ein Ende haben. Jedoch dieser Beitrag, denn es fehlen – wie gesagt – die Worte … Die Milben aber – für sie habe ich noch ein paar Wörter übrig: Nun ja, für mich weiterhin eine Begegnung der besonderen Art, (Entschuldigung, Martin). Aber witzige Gesellen sind das schon! Ob die das von uns auch denken? So viel zum Thema «Aburteilen von Kreaturen».


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