«Viele Menschen realisieren erst jetzt, wie wichtig wir sind.»

Ursi Barandun Schäfer war seit 1979 mehrheitlich im Universitätsspital Basel im Einsatz. Die Pflegeexpertin Intensivstation wird diesen Frühling pensioniert. Neben ihrer sinnvollen und abwechslungsreichen Arbeit werden ihr vor allem die Menschen fehlen.

Gazzetta: Ursi Barandun Schäfer, Sie haben den Ernst der Lage früh erkannt und bereits im März 2020 im «Club» und in der «Arena» vor einer Überlastung der Intensivstationen gewarnt. Wie hat die Corona-Pandemie Ihre Arbeit verändert?

Unser Alltag wurde auf den Kopf gestellt. Zwar betreuten wie die Patientinnen und Patienten – mit und ohne Covid-19 – so wie immer. Zeitgleich lief viel Zusätzliches ab: Das Führungsteam plante Prozesse, Personal und Material für mehrere Eskalationsstufen. Es rekrutierte Unterstützungspersonen von intern und extern und baute die Station um. Behandlungsschemen für die Covid-19-Betroffenen wurden geschrieben und immer wieder aktualisiert. Wir entwickelten Konzepte für die Zusammenarbeit in den neuen Ad-hoc-Teams und arbeiteten täglich neue Personen ein. Die Begleitung der Mitarbeitenden war wichtig, denn im Frühjahr 2020 war die Verunsicherung gross. Wir waren etwa besorgt, dass die Schutzkleidung nicht ausreichen würde. Bei der zweiten Welle hatten wir zwar wochenlang mehr Covid-19-Betroffene als im Frühjahr. Aber wir waren alle gefasster. Allerdings war die Verschnaufpause im Sommer zu kurz. Eine grosse Herausforderung ist immer noch die Besuchseinschränkung; wir müssen Ausnahmeregelungen definieren und unterstützen kreativ Alternativen für den Kontakt zwischen Angehörigen und Patientinnen und Patienten.

Wie geht es Ihnen? Wie steht es um Ihre Work-Life-Balance?

Es geht mir gut; meine Nächsten und ich sind gesund und ich bin weniger eingeschränkt als andere. Ich habe keine finanziellen Sorgen und hege keine Reisepläne. Gleichzeitig bin ich wie die meisten «Corona-müde». Übrigens gefällt mir der Begriff «Work-Life-Balance» nicht so gut. Er impliziert, dass «Work» nicht Teil des «Life» ist. Ich finde, die Arbeit und die Arbeitswelt sollten so gestaltet sein, dass wir die Arbeit gerne als Teil unseres Lebens wahrnehmen. Weil wir während der Arbeit Positives erfahren, wie beispielsweise Anerkennung, Humor und lebenslanges Lernen.

Touché, aber Ihr Alltag war nicht nur rosig. Sie leisten auf der Intensivstation eine anspruchsvolle Arbeit zwischen Leben und Sterben. Wieso haben Sie sich für diesen Beruf entschieden?

Ich absolvierte die Schwesternschule, um danach in der Spitex zu arbeiten. Das fünfwöchige Praktikum auf der Intensivstation hat mir dann aber den Ärmel reingezogen: Pflegende sind hier nur für zwei, maximal drei Patientinnen oder Patienten zuständig. Zudem können Pflegende dank der zweijährigen Weiterbildung ihr Wissen vertiefen und so schwerkranke Menschen betreuen. Die Menschen auf der Intensivstation sind zwar schwer krank, haben eine grosse Operation oder einen schweren Unfall hinter sich. Die Sterberate ist allerdings dank moderner Medizin mit vier Prozent tiefer als viele denken.

Was hat die Krise für die Pflegeberufe verändert?

Es gibt viel Aufmerksamkeit: Für einmal werden wir nicht primär als Kostenfaktor, sondern als systemrelevanter Beruf angesehen. Viele realisieren erst jetzt, wie wichtig wir für die Gesundheitsversorgung sind und dass ein Pflegenotstand droht respektive dieser bereits existiert. Er war schon vor der Pandemie da, wurde aber zu wenig wahrgenommen.

Im vergangenen Dezember sagten Sie in einem Zeitungsinterview, dass etwa die Hälfte der Pflegenden nach zehn Jahren aus dem Beruf aussteigen. Weshalb war dies bei Ihnen anders?

Vielleicht bin ich optimistischer im Sinne von «es wird schon besser werden, wenn wir uns dafür einsetzen», vielleicht fatalistischer im Sinne von «anderswo ist es auch nicht besser». Im Ernst: Die Pflege hat viele gute Seiten: Die Arbeit ist sinnvoll und abwechslungsreich, man trifft spannende Menschen, es gibt tolle Einsatzbereiche und Entwicklungsmöglichkeiten. Zudem geniessen Pflegende in der Schweiz ein gutes Image und unsere Arbeit ist gefragt und – nicht zynisch gemeint – krisensicher.

Wie hat sich Ihr Beruf entwickelt? Was wünschen Sie sich für Ihren Berufsstand?

Die Pflege hat sich professionalisiert, definiert ihren Zuständigkeitsbereich klarer, hat spezifisches Wissen entwickelt und baut dieses durch eigene Forschung weiter aus. Es ist ein Emanzipationsprozess, der noch nicht abgeschlossen ist.

Wie reagieren Sie, wenn im Tram oder Zug jemand die Schutzmaske unter der Nase trägt?

Oft bitte ich freundlich darum, sie hochzuziehen – fast immer mit Erfolg. Selten sage ich nichts. Allerdings ärgere ich mich dann nicht nur über den «Maskenfreak», sondern auch über mich.

Sie sagen über sich selbst, ein ausgeglichener Mensch zu sein. Wo laden Sie Ihre Batterien auf und tanken Energie?

Ich treffe mich mit Freundinnen und Bekannten oder gehe wandern. Zudem macht es mir Freude, meine Hände zu beschäftigen: entweder mit Wolle, Stoff und Faden oder mit Holz. Zudem singe ich in einem Chor – aktuell via Zoom. Auch lese ich viel und besuche gerne kulturelle Veranstaltungen. Ich kann es kaum erwarten, endlich wieder im Zuschauerraum zu sitzen.

Sie arbeiten seit über 35 Jahren in der Intensivpflege. Was werden Sie am meisten vermissen? Ohne was können Sie gut leben?

Die mir lieben Menschen und die Zusammenarbeit werden mir sicherlich fehlen. Dazu gehört auch die Arbeit mit den Patientinnen, Patienten und Angehörigen. Zudem werde ich es vermissen, weitere Entwicklungen auf der Station, in der Fachgesellschaft und in der Gewerkschaft mitzugestalten. Mit ständigem Zeitdruck habe ich allerdings genügend lang gelebt. Ich freue mich auf ruhigere Zeiten.

Und was haben Sie nun vor?

Ich geniesse meine freie Zeit ohne die berufliche Verantwortung. Ich bin gespannt, was die neue Situation mit mir machen wird respektive was ich damit mache.

Ursi Barandun Schäfer, besten Dank für das Gespräch!
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